Indien (Kerala)

objects in the mirror are closer than they appear

Die Gebrüder Kalkbrenner sind derzeit „angesagt“. Rhythmen, Klangfading und Sampling werden von den beiden Herrschaften nicht unschlau zusammengemischt, so dass man meinen möge, dass ihr minimalistischer Sound zum Soundtrack für schlechthin jede Situation werden könne.

Leider haben die Herren aus Leipzig die Rechnung ohne die staatliche indische Eisenbahn gemacht: Nichts rockt mehr als der Klang dieser Institution! Vielleicht können auch deutsche Regionalexpresse hier mithalten, jedoch verspielen diese jegliche Chance, da sie eine wichtige Komponente der maschinengestützten Klangerzeugung übersehen: Offene Fenster und offene Türen. Gut gut, vielleicht ist es etwas gewöhnungsbedürftig aus dem Zug herausfallen zu können, aber das ist dann halt persönliches Pech… Warum die Züge der indischen Eisenbahn aber auch das Prädikat „äußerst empfehlenswert“ bekommen, soll hier kurz aufgelistet werden:

  • 500km für umgerechnet 1,70€
  • Schlafabteile
  • Man kann mit Lächeln entwaffnen
  • Man wird mit Lächeln entwaffnet
  • keine Lonsdale-Wichser
  • keine Jamba-Sparabo-Spacken
  • Uhrenverkäufer
  • genug Halt in größeren Bahnhöfen, um Schmackhaftes einzukaufen

Auf der Reise in den Süden Indiens nehmen einige Dinge zu:

  • Luftfeuchtigkeit
  • Anzahl der großflächigen Werbeinstallationen
  • Essensschärfe
  • inoffizielle Cricketturniere
  • Feuerchen

Alle guten Trilogien sind dreiteilig. Mit diesem Artikel endet  diese Indien-Trilogie – vorerst. Im Spiegel des Schreibens und der visuellen Postproduktion betrachtet, wirken die Erlebnisse und Sichtweisen auf das Land nah und fern zugleich. Die Fahrt im Regionalexpress vom Flughafen nach Münster wirkt surreal. Furzbetrunkene Oberstufenschüler, Mobilfunkterror und die dunkelhäutige Dame im Abteil nebenan wird von einem Deutschen angesprochen: „Wo kommen sie her?“ Der Satz kommt bekannt vor.

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Indien (Karnataka)

Ihr kamt dann also da an…

Viele Alle Erziehungsberechtigte beginnen ihre Befragungen hinsichtlich vergangener Urlaubserlebnisse mit ein und dem selben Satz (s.o.). Diese – auf den ersten Blick banale – Aneinanderreihung von Wörtern wird jedoch von den Daheimgebliebenen für ganz unterschiedliche Zwecke genutzt: Als Sprungbrett zum Miteifern mit den Reisenden, als Medium zur Stillung des eigenen Wissensdursts oder einfach als Aufforderung, doch nun endlich das Erlebte in Kürze darzustellen.

Und dabei wären wir auch schon beim Problem:  Reiseerlebnisse in eine Form zu bringen, die vom Gegenüber (ansatzweise) nachvollzogen werden kann, ist eine Utopie! Hier geht es nicht um eine Frischzellenkur für den Konstruktuvismus oder die Chiffrierung der eigenen Erzählunlust, sondern darum, dass dem zum Erzählen Aufgeforderten selbst die Worte „fehlen“, weil das Verständnis des Erlebten „fehlt“ oder als so unzureichend erachtet wird, dass ein Erzählen dem Berichterstatter stets unpassend vorkommt.

„Huhu! Der Blogger drückt sich vorm Bloggen!“, „Schuster bleib bei deinen Leisten!“… Unkenrufe aller Länder vereinigt euch, jedoch müssen manche Dinge einfach „erlebt“ werden.

Signifikant: Das erste Mal Waschmaschinetragen beim Umzug. Es geht durch ein enges Treppenhaus. Anfänglich alles in Ordnung. Dann verliert man jedoch die Kontrolle. Panik und (unvorteilhaft riechender) Schweiß brechen aus. Das geht nicht gut. Von irgendwo kommt dann (hoffentlich) die helfende Hand, die einem vor dem sicheren Wirbelsäulenbruch rettet. Dem Tod noch so gerade von der Schippe gesprungen…

Signifikat: Das erste Mal Bus/Rikscha/Taxifahren in Indien. Es geht über eine Straße. Da kann kein Durchkommen sein. 1000 Menschen. 1000 Rikschas. 1000 Busse und das auf der Fläche einer Bundeskegelbahn… Oder anders gesprochen: Eine 100er Wurst in einer 80er Pelle! Der Bus setzt zum Überholen (eines Tanklasters) an. Hupen. Das ist das Ende. Mehr Hupen. Das ist wirklich das Ende. Mehr Hupen+Lichthupen. Augen zu. Anhaltendes Hupen+Lichthupe. Der Bus zieht kurz vor dem sicheren Ende rein. Dem Tod noch so gerade von der Schippe gesprungen…

Mehr Unverständliches: Für den aufgeklärten, ikonophoben, römisch-katholischen Theologen stehen das Pilgern zu Tempelanlagen oder die Installation eines Altars im Fahrerraum eines Omnibusses unter Generalverdacht der (seines Erachtens unzulässigen) Verbildlichung des Göttlichen. Da aber auch ikonoklastische Tendenzen dem Autor irgendwie auch fern liegen muss er versuchen, das Ganze zu verpacken. Was steckt dahinter? Wozu der ganze Kitsch? Wozu das Pilgern? Wozu die ganzen Räucherstäbchenwirbelstürme? Eine Antwort! Bitte! Die Antwort? Bestimmt nicht, aber ein Versuch: „Namaste“ – die Begrüßungsformel in Indien, die so viel bedeutet, wie „Ich grüße das Göttliche in dir“.

Das Göttliche des Menschen wird aber nicht nur in der Rettung durch den gottgleichen Busfahrer deutlich, sondern auch darin, dass einem immer wieder Projekte begegnen, die sich mit dem Status Quo nicht zufrieden geben. Zwei Beispiele: Frühstück mit Mike, Thea und Stefan. Stefan hat sich mit seinem Kumpel und einem Kickertisch auf die die Reise um die Welt gemacht und damit das Spendenprojekt globekicker initiiert. Von Köln bis Kabul, von Manheim bis Mumbai wird das Runde in das Eckige gebracht. Ein paar Meter weiter in Hampi liegt der Hampi Children Trust. Durch das – alleine durch Spenden finanzierte – Projekt bekommen die Kinder des stark touristisch geprägten Hampis ein Sprungbrett, sich mit Essen, Spielen und Lernen aus dem Abwärtsstrudel zu bringen.

Ich kam dann also da an…

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Indien (Mumbai)

Ich hupe, also bin ich

Seit 1961 produziert die Firma Panini Sammelalben. Seitdem können jagende Sammler ihrem Dokumentations- und Komplettierungstrieb in geordneten Bahnen freien Lauf lassen. Der Fußballfreund und der Filmfreak bekommen somit das, was sie für ihre infantile Freizeitbeschäftigung brauchen. Ein guter Freund – seines Zeichens Bodybuilder und Bioinformatiker – berichtete letztens von einem Kongress, bei dem er zu Beginn einen Stapel Klebebilder mit dem eigenen Konterfei bekam, um diese dann nach kurzen (stets wissenschaftlichen) Gesprächseinheiten als Andenken an die jeweiligen Gesprächspartner zu veschenken. Diese konnten dann das Bild in der eigens dafür erstellten Sammelmappe mit allen Kongressteilnehmern neben die Bio/Bibliografie des oben Erwähnten einkleben. Die ersttestamentliche Forderung des Dekalogs, sich eben kein Bild (von seinem Gegenüber) zu machen, wird mit dem paninischen Sammeltrieb offenbar komplett torpediert.

Geht man auf Reise, so hat man ebenso stets vorgefertigte Einklebebilder vor Augen, auch wenn man die zu bereisenden Orte noch nie gesehen hat.

Wie der Name des Artikels verrät, geht es hier um Indien. Das geistige „Sammelalbum Indien“ des Autors entstand in Teilen schon lange vor dieser Reise. Phileas Foggs Wette, die Welt in 80 Tagen umrunden zu können, gab mit ihren Haltestellen in und um Indien so viel Bildmaterial, dass das Fotografieren nicht zu einer Reproduktion des Jules Verneschen Vorbild degenerieren sollte. Zum anderen war die Unterdrückung des – wohl leider allzu menschlichen – Voyeurismus und der mit ihm einhergehenden Abbildungstendenz nie so groß, wie hier in Indien. Nicht alles, was man sieht, darf man fotografieren. Daher: Alle hier gezeigten Portraits sind stets entweder auf Anfrage der Fotografierten hin oder auf Nachfrage des Fotografens gemacht worden.

Durch Slumdog Millionär ist auch Mumbais „andere“ Seite ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten. Dharavi, größter Slum der Millionenstadt und Exposition der märchenhaften Aufstiegs- und Abstiegsgeschichte von Jamal und Salim ist nur eines von unzähligen Elendsvierteln. Unzählbar, da wirklich neben jedem noch so noblen Wohnviertel eine Konstruktion aus Wellblech, Holz oder Decken eine Herberge bietet. Wurde der 2009 erschienene Film in Europa meistens gelobt, rief er in Indien, besonders in Dharavi selbst u.a. Empörung hervor. Grund: Die Szenen stellen zwar einen Teil des Lebens dort dar, sparen aber die andere Seite des Slumlebens aus. Murali, ein befreundeter Dokumentarfilmer aus Mumbai zeigt beispielsweise in einem Film, wie penibel und akkurat die Slumhütten von innen gepflegt werden. Der Stolz und die Würde der Menschen können auch durch Kakerlaken und Kloaken nicht angetastet werden! So befindet sich direkt neben dem Slum Dhoby Ghaut, ein Wäscherei-Imperium, das für den Glanz im Chaos sorgt…

Die Alteritätserfahrung, das Erleben des radikal Anderen findet mit Mumbai sein Extrem. Der langsam abblätternde Glanz des Kolonialen, die unendliche Armut und die gleichzeitig überwältigende Durchsetzung des „Prinzip Leben“ können visuell nur ansatzweise verdeutlicht werden. In der Gewissheit, dass auch diese Bilder dem Paninitrieb wohl irgendwie anheimfallen werden, oder eben schon anheimgefallen sind, nur noch ein Schlussgedanke: Descartes „cogito ergo sum“ als auch Jules Verne Reiseberichte haben eines übersehen: Nichts zeigt die Energie und den Stolz der menschlichen Existenz so, wie das Hupen des mumbaiischen Straßenverkehrs.

Weiterführendes: Indien ist natürlich mehr als Mumbai. Daher wird (Süd)Indien hier im Folgenden mit Karnataka und Kerala dargestellt.

Sollten die Bilder oder Texte nicht gefallen: Einfach hupen!

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