Lettland

Wenn man Abschied nimmt, geht man nach Unbestimmt mit dem Wind, wie die Blätter wehen. Singt ein Abschiedslied, das sich um Fernweh dreht, um Horizonte und Salz und Teer.

Ich sitze in Liepaja vor dem Supermarkt und passe auf Räder und Gepäck auf. Zwischen sozialistischer Platte und immer mehr neueren Eigenheimen wägt ein Dealer ab, ob ich potentieller Kunde sein könnte. Im guten 187-Strassenbande-Tribute-Outfit (schwarzer Jogger und quer geschulterte Gürteltasche) entscheidet er sich dann aber doch dafür, dass der schwitzende Pedalist offenbar nicht zur Zielgruppe gehören sollte.

15 Kilometer weiter. Karosta. Ehemaliger Stützpunkt der russischen Ostseeflotte und lange Zeit auf offiziellen Karten gar nicht verzeichnet, Sperrgebiet. Heute ist das Gebiet mit kleineren Ausnahmen befahrbar. Die ehemaligen Kasernen der Marine zerbröckeln nach und nach. An einer Garagenwand steht „Wellcome to getto“. Mehr und mehr weicht der rote Backstein grauer Platte. Für einen Moment blitzt zwischen dem Grau der Platte und dem Grün der Pappeln aber auch ein Gold hindurch. Die Kuppeln des orthodoxen Doms von St. Nikolaus. Da Religion ja Opium des Volkes bzw. Opium für das Volk war oder ist, war der Dom in der Sowjetzeit Herberge für ein anderes Opiat: Ein Kino. Für die Matrosen der Ostseeflotte. 200 Meter weiter bietet das ehemalige russische Gefängnis Führungen und auch Übernachtungen (mit Sträflingskleidung und Sträflingsnahrung) in den Zellen an. Moderne Museumspädagogik mal anders.

Der Ostseeküsten-Radweg schlängelt sich – welch Überraschung – an der Ostseeküste entlang. Zu Okkupationszeiten war die Ostseeküste für die Letten eher eine Erzählung. Der Strand war Sperrgebiet. Das Gelände, das früher immer überwacht und teilweise vermint war, ist heute das Refugium für Touristen und Einheimische. Natur ist und war für Lettland immer wichtig: Als Eskapismus vor sowjetischer Unterdrückung oder als Flucht aus der Stadt. So sind heute viele Landstriche Nationalpark oder geschützte Zone.

In Riga spiegelt sich in den Scheiben eines in Süddeutschland produzierten Stadt-Geländewagens „Stalins Geburtstagstorte“, die Akademie der Wissenschaften. Die Stadt hat einiges zu bieten: Jugendstil-Häuser in rauen Mengen, eine höhere SUV-Dichte als Eppendorf, frischen zappelnden Fisch in den Markthallen, eine – im Kontrast zum Umland -exorbitante Preissteigerungsrate, und und und. Vor allem ist Riga aber eines: Die Geburtsstadt von Heinz Erhardt. Darauf könnte man sich jetzt – wenn man traurig sein sollte – erst einmal einen Korn trinken. Apropos Traurigkeit und Alkohol: In Lettland wird gerne und viel geballert. Vor allem als russische Minderheit. Nach den großen Deportationswellen nach Sibirien in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts siedelte das stalinistische Russland vor allem in Lettland viele Russen an, um dort u.a. die auf dem Land und in der Stadt fehlenden Menschen zu ersetzen. Der Sozialismus sollte real existieren. Bis heute ist die russische Minderheit in einem Status des Dazwischen gefangen: Von den Letten meist abgelehnt, von Russland aufgrund des weniger sicheren Rubels und der wirtschaftlichen Lage abgeschreckt.

Niemals geht man so ganz.

Ein Gedanke zu „Lettland

  1. Hallo,

    Sie scheinen bisweilen auch mit dem Drahtesel unterwegs zu sein. Sicherlich eine entschleunigte Art des Reisens.
    Ich musste beim Lesen Ihres Textes an einen Bekannten von mir denken, einem „artist in motion“,der solche Radtouren oft unternimmt und davon auf seinem Blog sozusagen „live“ berichtet, zuweilen sehr unterhaltsam. Vielleicht interessiert Sie ja der Link:

    https://irgendlink.de/

    Gruß und schönes Wochenende,
    Uwe Heckmann

    PS: Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir uns auch duzen. Da ich (wahrscheinlich) der Ältere bin, würde ich es Ihnen hiermit anbieten.

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