Oświęcim

Die Deutschen sind wieder da!

Es ist Oktober und das Wetter hält, was die Vorhersage verspricht. Am Rande des Markplatzes schauen die Schaufensterfiguren auf die durchnässten Besuchergruppen und die Grundrisse des ehemaligen deutschen Luftschutzbunkers. Bis ins neue Jahrtausend hinein war fast siebzig Jahre kein Geld vorhanden, um den zentral auf dem Marktplatz positionierten Rest des Bunkers abzureißen. Ein paar Meter weiter, am Rande der Sola wird kräftig gebaut: Die Überreste der ehemaligen Villa der Familie Haberfeld wurden nach ihrem langsamen aber sicheren Verfall abgerissen und bieten nun Platz für ein Hilton-Hotel.

Exkurs I: In den meisten Artikeln dieses Blogs erscheint der Autor nie direkt. Oft verschanzt er sich hinter seinen Ausführungen, Formulierungen und Bildern. Geht das bei diesem Beitrag auch? Ich entscheide mich für das ich. Denn es geht in den Bildern und Worten nur bedingt um eine möglichst objektive Dokumentation des Ortes. Es geht mehr um das, was sich in den letzten 15 Jahren nach dem letzten Besuch in Oświęcim bei mir getan hat. Um den Weg, auf dem ich mich heute, nach Zivildienst, Studium und beruflicher Auseinandersetzung diesem Ort der Shoah wieder nähere.

Exkurs II: Und gleichzeitig ist ein Beitrag zu Orten deutscher Geschichte ohne links-grün-versifftes Gutmensch-Moralin, lieber Bernd Höcke, nicht möglich. In Zeiten, in denen rechtspopulistische Politiker das Stelenfeld im Zentrum Berlins als „Mahnmal der Schande“ bezeichnen – und das kann man auch im Nachhinein nicht als von der Lügenpresse „falsch verstanden“ bezeichnen -, ist es notwendiger denn je, wenn deutsche Schulklassen zu Orten dieser Geschichte fahren, weil sie sich als Gruppe dazu entschieden haben. Es ist notwendiger denn je, wenn in Zeiten von geschichts-relativierenden YouTube-Kanälen, verschwörungstheoretischen Blogs oder identitären Hipster-Nazis Geschichte nicht mit den Worten „langsam muss doch auch mal Schluss sein“ ad acta gelegt wird. „Those who do not remember the past are condemned to repeat it“ (Georg Santayana). Punkt.

Auf dem Gelände von Auschwitz II, dem auch heute immer noch wohl und daher gleichzeitig sarkastisch klingenden Birkenau, machen Touristen Bilder und/oder Selfies von sich vor den Gleisen. Auch hier gilt: Ich bin auf dem Foto, also erinnere ich – erinnere ich mich. Es wirkt befremdlich auf mich als Deutschen, sich hier in Szene zu setzen. Schließlich ist die deutsche in-Szene-Setzung bis Januar 1945 Grund für die Bekanntheit des Ortes. Und gleichzeitig gibt es kein Primat der Erinnerung. Ich habe – unabhängig von meiner Nation – kein Anrecht auf Beurteilung der Erinnerungsmethode der Anderen. Vielleicht ist auch diese Form der Erinnerung ein Weg, sich dem Ort und seiner Geschichte anzunähern.

Zwischen den Zäunen, in Nähe der kleinen Teiche, hinter den Überresten der im Herbst 1944 gesprengten Gaskammern und Krematorien III grasen einige Rehe. Birkenau hat hier fast beruhigenden Charakter. Darf das sein? Ich versuche mich immer wieder mit der Kamera dem Ort, der Geschichte und meinen eigenen Gedanken zu nähern. Mit Bildern. Genau so, wie es damals, irgendwann in den 1980ern angefangen hat. Mit diesem schwarz-weiß Bild, das mir beim Lesen in Chronik des 20.Jahrhunderts auffiel: Ein Foto von einigen Gesichtern, die aus einem Waggon-Fenster schauen, verbannt hinter Stacheldraht. Was war da passiert?

Immer und immer wieder versucht der Ort, sich mir zu entziehen. Versucht, in der Geschichte zu verschwimmen. Oder bin ich es, der sich zu entziehen versucht? Zwischendurch hört der Regen auf. Die Sonne kommt hervor. Eine Besucherin sagt: „Ich weiß, dass das alles hier passiert ist. Ich kann es aber nicht glauben.“

Auf der Suche nach Antworten hat mich mein Weg 1999 nach Buchenwald, 2002 nach Oświęcim, 2004 nach Yad Vashem (Jerusalem) und an andere Orte der Shoah geführt. Antworten? Viele. Vor allem aber eine: Hinter jedem Opfer steht eine Geschichte. Eine Geschichte, die erzählt werden will, die erzählt werden muss.

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