Island

what comes easy never stays

Damals, als wir als Kinder auf einmal schnell groß geworden sind – schneller, als wir und unser Körper sich das eigentlich vorgestellt hatten; damals gab es dann diese komischen Wachstumsstreifen. Dort, wo wir schneller wuchsen, als gedacht. Wir mussten unserem Körper dann erst hinter her kommen, ihm kognitiv und emotional nachstellen, ihn einholen.

Letztens, 2008, als am 24.September Lehmann Brothers Insolvenz anmeldeten, musste auch Island auf einmal mit der Finanzkrise groß werden – schneller, als es sich das gedacht hatte. Die Fallhöhe des blinden Vertrauens auf die Sicherheit der Banken und der damit einhergehenden Spekulationen markierte auch auf der Atlantikinsel den Weg nach unten. Oder mit Schopenhauer:

Nun sind aber die Umstände, welche eine Bürgerfamilie in Noth und Verzweiflung versetzen, in den Augen der Großen oder Reichen meistens sehr geringfügig und durch menschliche Hülfe, ja bisweilen durch eine Kleinigkeit, zu beseitigen: solche Zuschauer können daher von ihnen nicht tragisch erschüttert werden. Hingegen sind die Unglücksfälle der Großen und Mächtigen unbedingt furchtbar, auch keiner Abhülfe von außen zugänglich; da Könige durch ihre eigene Macht sich helfen müssen, oder untergehn. Dazu kommt, dass von der Höhe der Fall am tiefsten ist. Den bürgerlichen Personen fehlt es demnach an Fallhöhe“ (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, hrsg. von Arthur Hübscher, Diogenes, Zürich 1977, S. 714.)

Der Unterschied zu Schopenhauer: Auch die bürgerliche Welt hat durch Wertverlust und fehlende Kreditmöglichkeit einen sehr real fühlbaren Abstieg.

Nach und nach reagiert Islands Regierung, verstaatlicht die sieben Jahre zuvor in die deregulierte, neoliberale Freiheit entlassenen Banken und versucht, die entwertete Krone zu schützen. Es folgen weitere Gegenmaßnahmen, um die bombastische Auslandsverschuldung von 9553 Milliarden isländischen Kronen (etwa 50 Mrd. €) aufzuhalten. U.a. werden im Oktober 2008 In- und Auslandskonten der Isländer innerhalb weniger Minuten eingefroren. Die Maßnahme klingt fast so grimmig wie der isländische Winter: Landsbanki Freezing Order 2008.

Erst ab 2012 schafft es Island wieder, durch die Rettungsmaßnahmen Schulden abzubauen. Es geht langsam wieder nach oben.

Und heute? Was ist aus den sozio-ökomomischen Wachstumsstreifen geworden?

Rückenlehne des Iceland-Air-Fliegers Hamburg-Kevlavik: Book your first adventure here on the flight. The cabin crew will help you. Reykjavik Innenstadt: Unter den Heerscharen der Camper-Bullis und Reise-Busse haben sich in den Straßen teilweise tiefe Spurrillen gebildet. In ihnen steht das Wasser des Augustregens. Campingplatz Sundlaugavegur / Reykjavik gegen 22:45 MET: Zwischen Freiwild, Schlager und Classical Rock holt sich eine Gruppe deutscher Enduro-FahrerInnen nebst begleitender Mercedes G-Klasse (Bier- und Grilltransport) schön einen auf die stramme Tagesleistung runter. Was haben wir heute geil auf den Straßen abgeliefert?! Man freut sich jetzt schon auf die Stunden an GoPro-Material am heimischen Bildschirm.

Orts- und Mentalitätswechsel: Dynjandi-Wasserfall / Westfjorde: Die beiden pensionierten Studienrätinnen bauen ihr Zelt auf, das sie kurz zuvor aus ihrem Camper geholt haben [und doch ganz nebenbei auch nochmal klar ihr Unverständnis ggü. Radreisen auf Island benannt haben]. Auf den freundlichen Hinweis, dass – mit Ausnahme für Wanderer und Fahrradfahrer – das Zelten für motorisierte Touristen verboten sei, wird erwidert: „Sie wollen mir doch nicht im Ernst erzählen, dass hier gleich die isländische Naturschutz-Polizei vorbeikommt und uns wegscheucht?!“ Tja, die isländische Naturschutz-Polizei kam dann offenbar zehn Minuten später doch vorbei…

Island kittet seine Wachstumsstreifen – mit einer doppelten Portion Salbe. Alles Gute dir, liebes Island.

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Båstnäs

In the backseats of burned out cars

In the disenchantment lane.

The ideal angels twist and turn

and ask forgiveness for future mistakes.

Brian Fallon – auch bekannt als der maximal tätowierte Lieblings-Kreationist von nebenan – weiß einfach, wie es aussieht: Ein Song guter Song braucht hinsichtlich des Wortschatzes nicht viel mehr als „Classic Cars“, „Movie-Screens“ und „Radio“. Das ist wohl auch der Grund, warum man Gaslight-Anthem-Songs als Soundtrack für einen Rundgang auf dem alten alte-Auto-Schrottplatz in Båstnäs abspielen könnte.

Es geht um alte Karren, Rost, Moos und etwas, das es in dieser Form wohl wirklich nur ein Mal gibt: An der Grenze zu Norwegen rasten/ruhen/rosten ca. 300?! Kraftfahrzeuge älteren Datums vor sich hin. Dann, wenn man meint, „Die Straße führt uns maximal zu einer Hütte im Wald, wo wir Opfer eines Serientäters mit sadistischen Neigungen werden, aber niemals zu diesem sagenumwobenen beschissenen Schrottplatz!“, dann liegt auf der linken Seite auf einmal ein Auto im Gebüsch. Die graphostilistische Kennzeichnung des Begriffs „Auto“ deutet darauf hin, dass die Terminologie hier nur bedingt ihre einwandfrei bezeichnende Funktion erfüllt, denn: Der chemische Prozess der Oxidation aka Rosten steht ja bekanntlich für eine Reaktion von Sauerstoff+X. Wenn es aber auch Fachtermini für die Reaktion von Moos+X oder (Borealer) Nadelwald+X gäbe, dann käme man dem, was einem in Båstnäs begegnet, etwas näher.

Das heitere Stelldichein der Kraftfahrzeuge hat primär eine Beitrittsvoraussetzung: Alt sein! Somit findet man auch kein Fabrikat, das „jünger“ ist als ein VW T1 mit geteilter Frontscheibe. Buick, Dodge, Volvo-Amazon, Buckel-Volvo, Chevy, Käfer, Taunus…

Zwischen fotografischer Zwangsstörung, automobiler Faszination und Achtung vor den vom Besitzer angedeuteten „Fallen“ entsteht mit jedem neu erspähten Auto immer auch wieder eine neue Ahnung einer Geschichte, einer Erzählung oder eben eines Songs, der/die entweder auf den Vor- oder Rücksitzen dieser Kraftfahrzeuge erlebt, erzählt oder eben gehört wurde.

8-2014 Schweden-539

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Schweden

Ach, Schweden, alte Hütte, altes Pferd,

warum hast du dich nicht vermehrt?

Vieles kann man erzwingen: Rücktritte von Politkern, Zahlungsaufforderungen bei unbezahlten Telefonrechnungen und das Gefühl von Unbehagen bei militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten.

Manches kann man eben aber auch nicht erzwingen: So kann man beispielsweise keine feriale Erholung zu Hause erzwingen. Irgendwann fängt man einfach an, zu funktionalistisch in den Alltag zu gehen: Aufräumen, Abheften, Abwarten. Daher MUSS man irgendwann dem Heimatland den Rücken zuwenden. Aber wohin? Wo gibt es zwanghafte Erholung?

Der weise Farin Urlaub kennt die Antwort und liefert gleich auch eine Begründung mit: In Schweden gehen die Uhren anders. Sic!

8-2014 Schweden-921

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Island

Im Kampf gegen die Endlichkeit zählt Wille mehr als die Zahl der Beine

Fernreisen unternimmt der Deutsche immer gerne. Im Ausland gibt es häufig viel zu sehen, essen, trinken, beischlafen. Gerne nutzt man die Möglichkeit einer Gruppenreise, um dem Exotischen gemeinsam zu begegnen.

So ist auch das kleine Island mit seinen geothermalen Außergewöhnlichkeiten, klimatischen Extremen und visuellen Kostbarkeiten nicht nur nach dem „Aschemonster“ ein beliebtes Reiseziel.

Doch Obacht: Kommt dem Gruppenreisenden ein allzu exotisches Wesen auf zwei Rädern entgegen, das wohlmöglich auch noch die eigene, gänzlich unexotische Sprache spricht, dann hat die Toleranz mit anderen Reisearten schnell ein Ende: „So etwas kann keinen Spaß machen!“ Ebenso gilt es, auch die mittägliche Verpflegung im Hochland-Restaurant – nach dem Ausstieg aus dem wohl klimatisierten Bus – streng nach den Vorschriften der Obersturmbandführerin Reiseleiterin einzunehmen, um den dezidiert isländischen Geschmack von Heringsdipp korrekt zu erfahren: „Halt, den Dipp darf man nur mit diesem Schwarzbrot essen!“ Wohl bekomm´s!

Was aber macht denn nun Spaß an Nebel, Schotterpisten, Gegenwind und 14%iger Steigung auf Bergpässen? Vielleicht nichts. Vielleicht aber auch eben die Freunde am Kampf gegen Nebel, Schotterpisten, Gegenwind und 14%iger Steigung auf Bergpässen an deren Ende die Welt nicht nur durch die Scheibe eines Reisebusses erfahren wird.

Dank an / Thanks to:

Berlin-Hannover-Crew für die ersten (Höhen)Meter und Nüsschen,

Cathy & John for offering porridge,

Erik for talking about cars and clothes of older people,

Marion & Patrick für Studiosus-Bashing und Kampf gegen Buckel,

Karin, Markus & Mia für „Wellblech im ausgehenden Spätkapitalismus – eine Kritik“ und

Friðörson & Hans Fjörðör für überhaupt!

7-2013 Island-738

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