Indien (Mumbai)

Ich hupe, also bin ich

Seit 1961 produziert die Firma Panini Sammelalben. Seitdem können jagende Sammler ihrem Dokumentations- und Komplettierungstrieb in geordneten Bahnen freien Lauf lassen. Der Fußballfreund und der Filmfreak bekommen somit das, was sie für ihre infantile Freizeitbeschäftigung brauchen. Ein guter Freund – seines Zeichens Bodybuilder und Bioinformatiker – berichtete letztens von einem Kongress, bei dem er zu Beginn einen Stapel Klebebilder mit dem eigenen Konterfei bekam, um diese dann nach kurzen (stets wissenschaftlichen) Gesprächseinheiten als Andenken an die jeweiligen Gesprächspartner zu veschenken. Diese konnten dann das Bild in der eigens dafür erstellten Sammelmappe mit allen Kongressteilnehmern neben die Bio/Bibliografie des oben Erwähnten einkleben. Die ersttestamentliche Forderung des Dekalogs, sich eben kein Bild (von seinem Gegenüber) zu machen, wird mit dem paninischen Sammeltrieb offenbar komplett torpediert.

Geht man auf Reise, so hat man ebenso stets vorgefertigte Einklebebilder vor Augen, auch wenn man die zu bereisenden Orte noch nie gesehen hat.

Wie der Name des Artikels verrät, geht es hier um Indien. Das geistige „Sammelalbum Indien“ des Autors entstand in Teilen schon lange vor dieser Reise. Phileas Foggs Wette, die Welt in 80 Tagen umrunden zu können, gab mit ihren Haltestellen in und um Indien so viel Bildmaterial, dass das Fotografieren nicht zu einer Reproduktion des Jules Verneschen Vorbild degenerieren sollte. Zum anderen war die Unterdrückung des – wohl leider allzu menschlichen – Voyeurismus und der mit ihm einhergehenden Abbildungstendenz nie so groß, wie hier in Indien. Nicht alles, was man sieht, darf man fotografieren. Daher: Alle hier gezeigten Portraits sind stets entweder auf Anfrage der Fotografierten hin oder auf Nachfrage des Fotografens gemacht worden.

Durch Slumdog Millionär ist auch Mumbais „andere“ Seite ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten. Dharavi, größter Slum der Millionenstadt und Exposition der märchenhaften Aufstiegs- und Abstiegsgeschichte von Jamal und Salim ist nur eines von unzähligen Elendsvierteln. Unzählbar, da wirklich neben jedem noch so noblen Wohnviertel eine Konstruktion aus Wellblech, Holz oder Decken eine Herberge bietet. Wurde der 2009 erschienene Film in Europa meistens gelobt, rief er in Indien, besonders in Dharavi selbst u.a. Empörung hervor. Grund: Die Szenen stellen zwar einen Teil des Lebens dort dar, sparen aber die andere Seite des Slumlebens aus. Murali, ein befreundeter Dokumentarfilmer aus Mumbai zeigt beispielsweise in einem Film, wie penibel und akkurat die Slumhütten von innen gepflegt werden. Der Stolz und die Würde der Menschen können auch durch Kakerlaken und Kloaken nicht angetastet werden! So befindet sich direkt neben dem Slum Dhoby Ghaut, ein Wäscherei-Imperium, das für den Glanz im Chaos sorgt…

Die Alteritätserfahrung, das Erleben des radikal Anderen findet mit Mumbai sein Extrem. Der langsam abblätternde Glanz des Kolonialen, die unendliche Armut und die gleichzeitig überwältigende Durchsetzung des „Prinzip Leben“ können visuell nur ansatzweise verdeutlicht werden. In der Gewissheit, dass auch diese Bilder dem Paninitrieb wohl irgendwie anheimfallen werden, oder eben schon anheimgefallen sind, nur noch ein Schlussgedanke: Descartes „cogito ergo sum“ als auch Jules Verne Reiseberichte haben eines übersehen: Nichts zeigt die Energie und den Stolz der menschlichen Existenz so, wie das Hupen des mumbaiischen Straßenverkehrs.

Weiterführendes: Indien ist natürlich mehr als Mumbai. Daher wird (Süd)Indien hier im Folgenden mit Karnataka und Kerala dargestellt.

Sollten die Bilder oder Texte nicht gefallen: Einfach hupen!

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