Verfall

Für alles gibt es eine Zeit –

Zeit für jedes Vorhaben unter dem Himmel:

Zeit zu gebären und Zeit zu sterben,

Zeit zu pflanzen und Zeit auszureißen.

Zeit zu töten und Zeit zu heilen,

Zeit einzureißen und Zeit zu bauen.

Während die Ostsee ihr Wasser gelangweilt an die mecklenburgischen Strände wirft, Politiker über die Senkung des Solidarzuschlags diskutieren und sich ein Rabbiner erneut für sein Reden rechtfertigen muss, bröckelt es.

Nah bei Wismar – was wohl auch „nah bei jeder Stadt im Osten der Republik“ heißen könnte – liegt idyllisch zwischen Solarfeldern, Go-Kart-Bahnen und Sträuchern gelegen ein kleines Häuschen. Die Überreste eines kleinen Häuschens.

Spricht man von Resten, denkt man an Verfall: Werteverfall, Verfallsdatum und Verfallserscheinungen. Selbst Menschen können etwas oder jemandem verfallen sein. Verfall birgt eine ihm eigenartige Art von Anziehung. Eine Mischung aus Ekel und Neugierde, Interesse und Unbehagen befällt uns bei der Konfrontation mit Verfall. Der eigene oder fremde körperliche Verfall; der im Boulevard-Magazin oder am Gartenzaun angeprangerte sozial-ethische Verfall; die Frage nach dem Verfallsdatum von Schnäpsen; selbst der Verfall einer Lübecker Kaufmannsfamilie fesselt.

Das Spiel oder die Angst mit dem eigenen [wie auch immer gearteten] Verfall ist wohl unterunbewusst die stärkste Triebfeder für die Faszination des Bröckelns, Krümelns, Knarzens und Brechens. Aber warum verhindert man den Verfall nicht, wenn man ihn doch am eigenen Leib oder in der eigenen Nachbarschaft nicht verspüren will? Warum treiben 30 Meter hinter dem zukunfts-zugewandten Solarfeld Holzwürmer und Jahreszeiten unbehelligt ihr grimmiges Spiel?

Kohelet geht davon aus, dass es für alles unter dem Himmel eine Zeit gebe. Wann genau fängt sie aber an?

3-2013 Verfall-001

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