Prora

Im Waschhaus des Zeltplatzes der eine Jugendliche zum anderen Jugendlichen: „Ich hab nur noch 14%!“

Der andere Jugendliche: „Ja, die Scheiße lädt nicht!“

Es gibt da diese Orte, die machen einen einfach fertig – und man weiß gar nicht genau warum. Eigentlich weiß man es schon, aber dann doch nicht so genau. Zumindest nicht hinsichtlich der Intensität des Abfucks. Prora auf Rügen gesellt sich beim Autor seit Kurzem in die Top irgendwas der geografischen / emotionalen / architektonischen Runterzieher.

Die Fakten: Rügen. Schöner Strand. Gutes Wetter. Ferien. Zeltplatz. Freunde.

Müsste doch eigentlich alles stimmen. Möchte man meinen. Doch dann ist da noch dieses „Gebäude“. Warum Anführungsstriche? Es ist doch ein Gebäude! Ja, aber es ist anders. Was soll das denn jetzt mit dem Kursiven? Ist es ein Gebäude oder nicht?

Gucken wir wieder auf die Fakten: Zwischen 1936 bis 1939 wurde in Prora auf Rügen angefangen, eines von fünf KdF-Bädern zu bauen. KdF: „Kraft durch Freude“, die Freizeit-, und auch Propagandaorganisation der Nationalsozialisten. Für den deutschen Arbeiter [im Dritten Reich wurde übrigens eher selten gegendert.] sollte auf ca. 4,5km Platz zur Erholung und zum Kraft-Tanken geschaffen werden. 20.000 [als Wort: Zwanzigtausend] sollten hier gleichzeitig, im Sinne von gleichzeitig, Urlaub machen. Kraft tanken, um im Krieg abliefern zu können. An den riesigen Schiffs-Anlegern sollte die KdF-Flotte anlegen und die zur Schau gestellten Kriegsschiffe des Reiches sollten dort eine Vorbereitung auf den Krieg gewährleisten. Zur Erholung und zum Kraft-Tanken kam es dann aber nicht mehr, weil Krieg.

Das ehemalige KdF-Bad wurde nie vollständig fertiggestellt. Die Handwerker und Rohstoffe wurden ab 1939 abgezogen und u.a. am „Westwall“ eingesetzt, also der Westgrenze des Dritten Reiches. Zur Aufrechterhaltung des unvollendeten Baus wurden Zwangsarbeiter*innen eingesetzt. Teile der Sonderseinsatzgruppen der Polizei und Teile des Sicherheitsdienstes „trainieren“ in den Kriegsjahren in Prora. In Teilen wenden sie ihr „Wissen und Können“ dann in den besetzten Gebieten an.

Der Bau ist das längste Gebäude der Welt. So wie der „Rassenwahn“ und der Geltungswahn der Nationalsozialisten [warum gendert man hier eigentlich so selten?] seine Extreme stets ausweitete, ist auch der architektonische Wahn hier in extrem viele Schichten Stahlbeton gegossen.

Dabei sind hier keine plötzlichen oder unvorhersehbaren oder mystischen Mächte am Werk gewesen. Der Weg zur architektonischen Propaganda bahnt sich bereits drei Jahre zuvor seinen Weg. Eine Zeitung schreibt 1933 über das ebenfalls an der Ostsee gelegene Seebad Heringsdorf: „Früher Judenparadies – Jetzt deutscher Badeort“ Und in der Unterzeile: „Achtundachtzig Prozent der Badegäste waren bis 1933 Juden – KdF machte Heringsdorf wieder judenfrei.“ Spannend: (Gefälschte) Zahlen scheinen immer schon hoch im Kurs gewesen zu sein.

Und dann? In den frühen Nachkriegsjahren verstecken sich Geflüchtete in den unfertigen Bauten. In den Folgejahren übernimmt die Rote Armee Teile des Gebäudes zur Kasernierung. Auch die NVA nutzt des ehemalige KfF-Bad für ihre Zwecke.

Nach der Wende – und irgendwie wohl bis heute – ist DIE Nutzung des Bades „der Zwanzigtausend“ nicht wirklich geklärt. Halt! Doch! Na klar! Was schreibt der Autor denn hier?! Große Teile des 4,5km langen Gebäudes wurden an Investoren verkauft und wiederverkauft. Aufwändig entkernte und / oder gentrifizierte Abschnitte des Baus sind bereits fertig gestellt und heißen die Urlauber*innen / Senior*innen willkommen: Das bayuwarisch gestaltete Restaurant / Hotel „Mariandl am Meer“ [#premiumsegment], die Seniorenreidenz „Haus Meeresrauschen“ oder die „Dünenresidenz Prora“ [ALTA, wer denkt sich eigentlich diese Namen aus?!] versprechen „das gewisse Etwas“. Was mag dieses „Etwas“ wohl sein?

Dem E-Bike-Rentner nebst Gattin gefällt die Aufwertung des Geländes. „Was will man denn sonst damit machen?!“ Ja, diese Frage stellt sich der Autor seit dem Besuch auch. Eine Antwort darauf hat er auch nicht. Den ganzen Ranz abreißen? Den Bau den Widrigkeiten der Witterung überlassen? Ein riesiges Museum? Der Bund hat den Großteil des Gebäudes dem freien Markt überlassen und sich aus der Verantwortung begeben. Immer wieder musste das Dokumentationszentrum mit finanziellen Engpässen zurechtkommen. Am nördlichen Ende des „Gebäudes“ befindet sich eine Jugendherberge mit angrenzendem Zeltplatz.

Vorletzter Tag. Der Autor unterhält sich lange mit Peggy und Ronny. Beide sind zusammen mit ihrer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung (und ihren Betreuer*innen) für eine Woche in der Jugendherberge Prora zum Urlaub. Ronny ist Rollstuhlfahrer und Spastiker und erzählt davon, dass sein Vater zu DDR-Zeiten hier als Soldat untergebracht war. Ronny hätte nach der Fertigstellung des „Seebad der Zwanzigtausend“ sicherlich keinen Platz zum Kraft-Tanken zur Verfügung bekommen. Vielleicht ist Ronnys Urlaub heute aber auch die Antwort darauf, warum Prora noch da ist.

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