Völkerwanderungen

Mit´m Bollerwagen sind wir durch die Straßen gezogen!

Mit´m Bollerwagen!

Es ist fast immer das gleiche Bild: Menschen ziehen ihre Habseligkeiten auf Bollerwagen oder bollerwagenähnlichen Gebilden durch die Gegend, durch Länder, über Ländergrenzen hinweg. Ex-Kriegsgebiete, Kriegsgebiete und Bald-Kriegsgebiete. Trümmerfrauen, Syrien-Flüchtlinge und 1.Mai-Wandernde.

Eigentlich sollte es nichts Großes werden, doch auf einmal war man drin und kam dann auch irgendwie gar nicht mehr raus: Nördliches Ruhrgebiet, Naherholungsgebiet, Sperrgebiet, Feiergebiet, Kampfgebiet. Die groben Gebietsmarkierungen sind wohl deutschlandweit variierbar, die Grundkonstanten nicht: Es geht um Alkohol, Feiertag, Wettstreit und auch irgendwie nochmals um Alkohol.

Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten von Flüchtlingen und 1.Mai-Wandernden beschleicht einen die Einsicht, dass in beiden Fällen der Bollerwagen die „Habseligkeiten“ transportieren muss – die Auslegung des Begriffs „Habseligkeiten“ variiert allerdings. Vielleicht muss in diesem Kontext auch noch mal über den Begriff „Bierseligkeit“ neu nachgedacht werden.

Der Bollerwagen hat im ausgehenden Spätkapitalismus schon lange nicht mehr nur die Funktion der reinen Beförderung von Gegenständen zu erfüllen. In ihm kristallisiert sich mehr und mehr die Suche und auch das Er-Finden formvollendeter Individualität. Nachdem man im Hipster-Tum nur bis zum nächsten GroßKleinstadt-Cafe-Besuch Individualität und optisches Ansehen genießen konnte, bietet der Bollerwagen das, was der Mensch seit Genesis 4, 1-16 wirklich gesucht hat: Respekt und Ehrfurcht!

Doch im Kontext der Mega-Bollerwagen-Präsentation reiht sich zu dem Respekt und der Ehrfurcht noch ein ganzer Rattenschwanz an Begleit-Emotionen: Furcht, Ekel und Fremdscham… Frauenarzt, PUR-Hitmix und Lady Gaga bieten zusammen mit der blanken Gesäßmuskulatur des 1.Mai-Wandernden einen Cocktail, der jedoch leider nur bedingt alltagsvertäglich ist.

Deutschland: Land der Dichter und Denker.

Deutschland: Land der Dichten und Lenker.

5-2014 Wandern in Haltern-137

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Wuppertal

Du bist New York City

und ich bin Wanne-Eickel

Eine zurückgelehnte Feiertagsatmospähre fließt durch die Straßen von Oberbarmen. Junge Migranten sind sich nicht sicher, ob sie am nächsten Tag wirklich keine Schule haben; Filzjacken-Rentner rücken die rausgerutschten Hemden semi-sicher und doch ordnungsgemäß in die Obhut der sicheren Unterhose und Pizzabäcker berichten stolz vom neuen Pavillon für Raucher in der herannahenden, kalten Jahreszeit.

Ein Freund eröffnete vor einiger Zeit die Kategorie „unterschätzte Emoticons“. Welches ASCII-Zeichen ist eigentlich unglaublich gut, aber digital leider total unbeachtet? Ein Freund des Freundes eröffnete einige Zeit danach die Kategorie „unterschätzte Städte“. Welche Stadt ist eigentlich unglaublich gut, aber vom Rest der Republik – abgesehen von Stauschauen – total unbeachtet?

Zurecht haben Kettcar in ihrem Song auf den NYC-Wanne-Eickel-Vergleich zurückgegriffen, denn Wuppertal gehört definitiv in die Kategorie „unterschätze Städte“.

10-2013 Wuppertal-13

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Island

Im Kampf gegen die Endlichkeit zählt Wille mehr als die Zahl der Beine

Fernreisen unternimmt der Deutsche immer gerne. Im Ausland gibt es häufig viel zu sehen, essen, trinken, beischlafen. Gerne nutzt man die Möglichkeit einer Gruppenreise, um dem Exotischen gemeinsam zu begegnen.

So ist auch das kleine Island mit seinen geothermalen Außergewöhnlichkeiten, klimatischen Extremen und visuellen Kostbarkeiten nicht nur nach dem „Aschemonster“ ein beliebtes Reiseziel.

Doch Obacht: Kommt dem Gruppenreisenden ein allzu exotisches Wesen auf zwei Rädern entgegen, das wohlmöglich auch noch die eigene, gänzlich unexotische Sprache spricht, dann hat die Toleranz mit anderen Reisearten schnell ein Ende: „So etwas kann keinen Spaß machen!“ Ebenso gilt es, auch die mittägliche Verpflegung im Hochland-Restaurant – nach dem Ausstieg aus dem wohl klimatisierten Bus – streng nach den Vorschriften der Obersturmbandführerin Reiseleiterin einzunehmen, um den dezidiert isländischen Geschmack von Heringsdipp korrekt zu erfahren: „Halt, den Dipp darf man nur mit diesem Schwarzbrot essen!“ Wohl bekomm´s!

Was aber macht denn nun Spaß an Nebel, Schotterpisten, Gegenwind und 14%iger Steigung auf Bergpässen? Vielleicht nichts. Vielleicht aber auch eben die Freunde am Kampf gegen Nebel, Schotterpisten, Gegenwind und 14%iger Steigung auf Bergpässen an deren Ende die Welt nicht nur durch die Scheibe eines Reisebusses erfahren wird.

Dank an / Thanks to:

Berlin-Hannover-Crew für die ersten (Höhen)Meter und Nüsschen,

Cathy & John for offering porridge,

Erik for talking about cars and clothes of older people,

Marion & Patrick für Studiosus-Bashing und Kampf gegen Buckel,

Karin, Markus & Mia für „Wellblech im ausgehenden Spätkapitalismus – eine Kritik“ und

Friðörson & Hans Fjörðör für überhaupt!

7-2013 Island-738

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Färöer

Je nach Stattlichkeit Ihres Schnurrbartes einen Strang aus der Tube zwischen Daumen und Zeigefinger verreiben und von der Bartmitte aus gleichmäßig in den Schnurrbart einzwirbeln.

Dem Zwang der assoziativen Lockerung folgend/verfallend, wird der irritierte Leser mit der Gebrauchsanweisung eines bayrischen Bartwichse-Herstellers hier ganz ungalant auf eine kleine, autonome und dennoch zur dänischen Krone gehörende Inselgruppe im Nordatlantik gelockt.

Denn es gibt Dinge und Orte auf dieser Welt, die durch ihre Stattlichkeit bestimmtes Verhalten erfordern: Stattliche Schnurrbärte erfordern entsprechend viel Bartwichse und stattliche Inseln erfordern – was eigentlich?

Der/Die/Das National Geographic gab 2007 eine Untersuchung von 111 Inselkulturen dieses Planeten in Auftrag, um DIE Insel zu küren. Aufgrund ihrer Stattlichkeit [bzw. der Kriterien „Qualität von Umwelt und Öko­logie, soziale und kulturelle Einheitlichkeit, Zustand histo­ris­cher Gebäude und archäolo­gisches Interesse, ästhe­tischer Reiz, verantwortliches Touris­mus­manage­ment und Zu­kunft­s­aussichten“] wurden die Färöer zur Königin der Inselwelt ernannt. Dass die charmanten Felsen zwischen den britischen Inseln, Island und Norwegen nicht nur über Fussballstadien von hoher Stattlichkeit, sondern auch über die in (geographisch gesehen) Europa höchste Lebenswartung bei Männern verfügen, soll hier nur am Rande erwähnt sein.

Zurück zur Frage, was eine stattliche Inselgruppe erfordert: ISO-Werte unter 100, Blenden größer/kleiner [je nach Denkrichtung] f10 und einen von Staub befreiten Sensor. Mehr nicht. Zumindest fotografisch gesehen…

7-2013 Faeroer-26

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Ex-Abhörstationen

Ein Spion am rechten Ort ersetzt 20.000 Mann an der Front

Damals: Eltern über´s Wochenende weg.

Gründe: Kegel-Club-Wochenende, Katholikentag, Vettern- & Cousinentreffen, Überreizung vom pubertärem Gehabe der Sprösslinge, Weinprobe in Boppard am Rhein… [Reihe regional/konfessionsgebunden erweiterbar].

Folge: Lange Videonachtnächte mit Schicksalsgenossen. Ohne Vincent und Jules, ohne Gina [maximal Emmanuelle] und ohne Jigsaw. Dafür mit Sean, George, Roger und Timothy.

Letztens: Eltern über´s Wochenende zu Hause.

Gründe: Kegel-Club am Sonntag, Evangelischer Kirchentag, Vettern- & Cousinentreffen schon letztes Jahr, Faszination vom pre-pubertärem Gehabe der Enkelkinder, Weinprobe erst im Herbst… [Reihe regional/konfessionsgebunden erweiterbar].

Folge: Langes Wochenende in der Hauptstadt und wochenlange Vorfreude auf ein semi-legales Einsteigen in die ehemalige Abhörstation der NSA auf dem Teufelsberg. Ohne Sean, George, Roger und Timothy. Dafür mit sieben Euro Eintritt, Sprayer-Sprühnebel in der Nase und verkaterter/genervter/französischer Erasmus-Austausch-Studentin-Teufelsberg-Wikipedia-Artikel-Vorleserin.

Heute: Vorfreude auf lange Videonachtnächte mit Schicksalsgenossen und ein semi-legales Einsteigen in die ehemalige Abhörstation der NSA auf dem Teufelsberg.

5-2013 Berlin-295 Weiterlesen

Treptower Park

Und dann im Februar,

auf dem Weg nach Kandaha,

liegst du zitternd auf dem Boden,

während andere in’s Kino geh’n.

Regen. Nieselregen. Später Sonne. Die Luft ist satt, trotzdem noch angefüllt mit Blumenladenduft. Ein Polizeiauto dreht seine Runden. Dauerläufer dehnen sich. Unfreundliche Psychotiker beschimpfen Hundebesitzer. Freundliche Psychotiker umrunden manisch Statuen.

Drei Tage nach dem Tod eines deutschen Soldaten in Afghanistan wird auf dem Gelände des sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park/Berlin den gefallenen Soldaten der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg gedacht – 8.Mai 2013. Zwischen Kondolenzkränzen deutsch-demokratischer Traditionalistenverbände und LIDL-Sträußen steht ein Glas Wodka mit Brot.

Ein russisches Sprichwort sagt: „Овчинка стоит выделки“ – „Das Schaffell lohnt das Gerben“. Wohl dann.

5-2013 Berlin-013