Captain Planet | Molotow

Weiter – bis die Stimme aufgibt
Bis alles zerfällt
Bis der Vorhang wieder aufgeht, uns nichts mehr hier hält
Zu schwach – zu wenig
Alles viel zu sehr gewollt
Das hier ist ein Ende

Es war keine scheiß Idee. Von Anfang an musste ein Abend im Molotow ohne Polyester-Trikots gut werden. Dabei kann man von den feinen Herren von Captain Planet wirklich nicht sagen, sie gäben sich keine Mühe. Die Nacht auf St.Pauli ist offenbar wohl eine Naht, die alle zusammen hält. Der freundliche Spritti am Gleis: „Nur der HSV?“ Der andere: „Nur der HSV!“

Der Boden am Ende der Reeperbahn flüstert dabei eher wenig – eigentlich gar nicht. Vielleicht auch deshalb, weil sich jeder soviel Zeit nimmt, wie er braucht. Für Mexikaner, Kogge & Korn. Der Mond scheint dabei als Strohboskop durch die Bäume am Beatles-Platz. Nebenan: gelb und blau leuchtende Nachbarhäuser. Und Schweinske. Die letzten Spuren vom alten Leben dabei überall. Ein „Viva allein!“ verhallt bei knapp 200 Gestalten mehr oder minder spurlos im Schweiß – oder beim ersten hanseatischen Konzert nach der geheimdienstlichen Plattenveröffentlichung eben halt nicht.

Gefühlt das erste CP-Konzert nach 25 Jahren – und das zu Beginn des meteorologischen Herbstes! Dabei gilt: Nicht nur in Bussen ist immer Sommer. Unter dem Schallplattenhimmel am Ende und Anfang der Straße scheint auch immer eine zersplitterte Kugel auf uns alle herab. Definitiv: Während einer knappen Stunde Beschallung durch Arne, Benni, Sebastian, Marco und Basti kann man sich nicht als grauer Hund fühlen, der aus Katzen zusammen genäht ist.

Danke dafür!

9-2016 Captain Planet @ Molotow-230

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Völkerwanderungen

Mit´m Bollerwagen sind wir durch die Straßen gezogen!

Mit´m Bollerwagen!

Es ist fast immer das gleiche Bild: Menschen ziehen ihre Habseligkeiten auf Bollerwagen oder bollerwagenähnlichen Gebilden durch die Gegend, durch Länder, über Ländergrenzen hinweg. Ex-Kriegsgebiete, Kriegsgebiete und Bald-Kriegsgebiete. Trümmerfrauen, Syrien-Flüchtlinge und 1.Mai-Wandernde.

Eigentlich sollte es nichts Großes werden, doch auf einmal war man drin und kam dann auch irgendwie gar nicht mehr raus: Nördliches Ruhrgebiet, Naherholungsgebiet, Sperrgebiet, Feiergebiet, Kampfgebiet. Die groben Gebietsmarkierungen sind wohl deutschlandweit variierbar, die Grundkonstanten nicht: Es geht um Alkohol, Feiertag, Wettstreit und auch irgendwie nochmals um Alkohol.

Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten von Flüchtlingen und 1.Mai-Wandernden beschleicht einen die Einsicht, dass in beiden Fällen der Bollerwagen die „Habseligkeiten“ transportieren muss – die Auslegung des Begriffs „Habseligkeiten“ variiert allerdings. Vielleicht muss in diesem Kontext auch noch mal über den Begriff „Bierseligkeit“ neu nachgedacht werden.

Der Bollerwagen hat im ausgehenden Spätkapitalismus schon lange nicht mehr nur die Funktion der reinen Beförderung von Gegenständen zu erfüllen. In ihm kristallisiert sich mehr und mehr die Suche und auch das Er-Finden formvollendeter Individualität. Nachdem man im Hipster-Tum nur bis zum nächsten GroßKleinstadt-Cafe-Besuch Individualität und optisches Ansehen genießen konnte, bietet der Bollerwagen das, was der Mensch seit Genesis 4, 1-16 wirklich gesucht hat: Respekt und Ehrfurcht!

Doch im Kontext der Mega-Bollerwagen-Präsentation reiht sich zu dem Respekt und der Ehrfurcht noch ein ganzer Rattenschwanz an Begleit-Emotionen: Furcht, Ekel und Fremdscham… Frauenarzt, PUR-Hitmix und Lady Gaga bieten zusammen mit der blanken Gesäßmuskulatur des 1.Mai-Wandernden einen Cocktail, der jedoch leider nur bedingt alltagsvertäglich ist.

Deutschland: Land der Dichter und Denker.

Deutschland: Land der Dichten und Lenker.

5-2014 Wandern in Haltern-137

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Wuppertal

Du bist New York City

und ich bin Wanne-Eickel

Eine zurückgelehnte Feiertagsatmospähre fließt durch die Straßen von Oberbarmen. Junge Migranten sind sich nicht sicher, ob sie am nächsten Tag wirklich keine Schule haben; Filzjacken-Rentner rücken die rausgerutschten Hemden semi-sicher und doch ordnungsgemäß in die Obhut der sicheren Unterhose und Pizzabäcker berichten stolz vom neuen Pavillon für Raucher in der herannahenden, kalten Jahreszeit.

Ein Freund eröffnete vor einiger Zeit die Kategorie „unterschätzte Emoticons“. Welches ASCII-Zeichen ist eigentlich unglaublich gut, aber digital leider total unbeachtet? Ein Freund des Freundes eröffnete einige Zeit danach die Kategorie „unterschätzte Städte“. Welche Stadt ist eigentlich unglaublich gut, aber vom Rest der Republik – abgesehen von Stauschauen – total unbeachtet?

Zurecht haben Kettcar in ihrem Song auf den NYC-Wanne-Eickel-Vergleich zurückgegriffen, denn Wuppertal gehört definitiv in die Kategorie „unterschätze Städte“.

10-2013 Wuppertal-13

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Ex-Abhörstationen

Ein Spion am rechten Ort ersetzt 20.000 Mann an der Front

Damals: Eltern über´s Wochenende weg.

Gründe: Kegel-Club-Wochenende, Katholikentag, Vettern- & Cousinentreffen, Überreizung vom pubertärem Gehabe der Sprösslinge, Weinprobe in Boppard am Rhein… [Reihe regional/konfessionsgebunden erweiterbar].

Folge: Lange Videonachtnächte mit Schicksalsgenossen. Ohne Vincent und Jules, ohne Gina [maximal Emmanuelle] und ohne Jigsaw. Dafür mit Sean, George, Roger und Timothy.

Letztens: Eltern über´s Wochenende zu Hause.

Gründe: Kegel-Club am Sonntag, Evangelischer Kirchentag, Vettern- & Cousinentreffen schon letztes Jahr, Faszination vom pre-pubertärem Gehabe der Enkelkinder, Weinprobe erst im Herbst… [Reihe regional/konfessionsgebunden erweiterbar].

Folge: Langes Wochenende in der Hauptstadt und wochenlange Vorfreude auf ein semi-legales Einsteigen in die ehemalige Abhörstation der NSA auf dem Teufelsberg. Ohne Sean, George, Roger und Timothy. Dafür mit sieben Euro Eintritt, Sprayer-Sprühnebel in der Nase und verkaterter/genervter/französischer Erasmus-Austausch-Studentin-Teufelsberg-Wikipedia-Artikel-Vorleserin.

Heute: Vorfreude auf lange Videonachtnächte mit Schicksalsgenossen und ein semi-legales Einsteigen in die ehemalige Abhörstation der NSA auf dem Teufelsberg.

5-2013 Berlin-295 Weiterlesen

Treptower Park

Und dann im Februar,

auf dem Weg nach Kandaha,

liegst du zitternd auf dem Boden,

während andere in’s Kino geh’n.

Regen. Nieselregen. Später Sonne. Die Luft ist satt, trotzdem noch angefüllt mit Blumenladenduft. Ein Polizeiauto dreht seine Runden. Dauerläufer dehnen sich. Unfreundliche Psychotiker beschimpfen Hundebesitzer. Freundliche Psychotiker umrunden manisch Statuen.

Drei Tage nach dem Tod eines deutschen Soldaten in Afghanistan wird auf dem Gelände des sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park/Berlin den gefallenen Soldaten der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg gedacht – 8.Mai 2013. Zwischen Kondolenzkränzen deutsch-demokratischer Traditionalistenverbände und LIDL-Sträußen steht ein Glas Wodka mit Brot.

Ein russisches Sprichwort sagt: „Овчинка стоит выделки“ – „Das Schaffell lohnt das Gerben“. Wohl dann.

5-2013 Berlin-013

Ex-Freizeitparks

Nimm mich mit auf den Rummel!

Zwei Brüder. Der Jüngere: Besitzer eines kleinen Freizeitpark-Maskottchens in Hasenform mit langen Ohren. Der Ältere: Ungestüm, wüst und teilweise auch recht grimmig. Eines Tages: Streit Streit Streit. Wo Worte versagen, müssen Taten her. Die Unfähigkeit zur Kommunikation wird durch das Abschneiden der Freizeitpark-Maskottchen-Ohren kompensiert. Streit Streit Streit.

Eine Stadt. Die eine Hälfte: Real existierender Sozialismus und Besitzerin eines Freizeitparks. Die andere Hälfte: Klassenfeind mit Anbindung an den westlichen Imperialismus. Eines Tages: Wende Wende Wende. Wo Haushaltsmittel ausgehen, müssen private Investoren her. Die Unwilligkeit zur Investition wird mit Drogenschmuggel kompensiert. Streit Streit Streit.

Im Herzen von Berlin, kurz hinter dem sowjetischen Denk/Mahn/Ehrenmal, liegt der VEB Kulturpark Plänterwald. Ehemaliger Rummelplatz für den volkseigenen Freizeitspaß. Wo sich früher in heiteren Stunden von der Erfüllung des sozialistischen Plansolls erholt wurde, ist heute die Erotik des Verfalls zu bewundern. Zwischen umgefallenen Dinosauriern und bemoosten Kaffee-Tassen-Karussels nimmt einen die ehemals volkseigene Bimmelbahn für schlappe 2€ mit auf die Reise in die Zukunft durch die Vergangenheit. Glücklicherweise verfügt der Rummel-Reisende heute meist über digitale Kameras, denn die analogen Recycling-Kameras von Kodak sind leider seit ein paar Tagen ausverkauft. Streit Streit Streit.

5-2013 Berlin-163

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